Manfred Weinberg zur deutschsprachigen Literatur Prags

Bericht von Jan Trna -1. Oktober 2017

Im Rahmen des regelmäßig angebotenen Seminars Prager deutschsprachige jüdische Literatur von Sippurim bis H. G. Adler wurde kurz vor dem Semesterbeginn, am 16. und 17. Februar 2017, ein Blockkurs veranstaltet, der von Prof. Dr. Manfred Weinberg, dem Leiter der Kurt Krolop Forschungsstelle für deutsch-böhmische Literatur in Prag, gehalten wurde. Ziel dieses für Studierende quer durch alle Semester gedachten Treffens war es, nicht nur einen Einstieg in die komplexe Problematik zu bieten, sondern vor allem die theoretisch anspruchsvollen Ansätze vorzustellen und sie anhand von ausgewählten literarischen Texten zu verdeutlichen.

 

Am Donnerstagnachmittag eröffnete M. Weinberg die Lehrveranstaltung mit dem Vortrag Prager Zwischenräume und/bei Franz Kafka, in dem er die mit Prag und Prager Literaten Franz Kafka verbundenen Stereotype angesprochen hat, die nicht nur bei literaturgeschichtlich Ungebildeten, sondern auch in den bildungsorientierten Medien in Deutschland kursieren, wie etwa vorherrschende Meinung, Kafka sei in den böhmischen Ländern von Anfang an geschätzt und gepriesen worden, Institutionen und Straßen in Prag trügen seinen Namen und Schüler würden in Literaturstunden mit seinem Werk vertraut gemacht – all dies ist von der Wirklichkeit weit entfernt. Trotz der Unkenntnis, die sich rund um Kafkas Wirkung entfaltet und keineswegs lediglich in Bezug auf Deutschland oder Tschechien vorhanden ist, stehe Franz Kafka für M. Weinberg für einen „Türöffner“ in die deutsche Innenlandsgermanistik hinein, gleichzeitig für den Autor einer regionalen Literatur (freilich nicht im Sinne der Provinzialität) , um die (inter)kulturellen Zusammenhänge in Prag zu Kafkas Lebzeiten in den Fokus zu rücken.

 

Neben Kafkas Rezeption, die oftmals mit dem verwirrenden Adjektiv kafkaesk einhergeht, wurde ferner beleuchtet, wie er sich als Jude wahrnahm und welche Personen auf ihn in dieser Hinsicht Einfluss ausübten. Als einer der ostjüdischen Tradition angehörige Autor, dessen Ansichten Kafka schätzte, sei Jiří Mordechai Langer hervorgehoben. Als Gegenpol nannte M. Weinberg Langers Bruder František, der als nichtpraktizierender Jude dem Model der Assimilierung zuzuzählen ist. Außerdem wurde auch die dritte Möglichkeit erwähnt, von der sich beispielsweise Max Brod eine moderne Auffassung des Judentums versprach – Zionismus.

 

Diesem Auftakt folgte eine Ausarbeitung der theoretischen Ausgangspunkte der deutschen Literatur Prags, indem u.a. auf zwei Liblicer Konferenzen hingewiesen wurde (eine zu Kafka, die andere zur Prager deutschen Literatur). Ferner ging M. Weinberg an Interkulturalitäts- und Raumkonzepte heran, die er später anhand von konkreten Textbeispielen gemeinsam mit den Studierenden auf die Nützlichkeit und Anwendbarkeit für die deutsche Literatur Prags hin befragte.

 

Somit bereitete M. Weinberg eine konstruktive Basis für den weiteren Ablauf des Blockkurses vor, der als Seminarreihe erfolgte. Der Fachpublikation Handbuch zur deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder, die M. Weinberg in Zusammenarbeit mit Peter Becher, Steffen Höhne, und Jörg Krappmann mit herausgibt, und die voraussichtlich im Herbst 2017 erscheint, entstammen zwei Texte, die in der ersten Seminarsektion auf dem Programm standen und die im Folgenden im Überblick dargeboten werden.

 

Das Kapitel Interkulturalitätskonzepte allgemein diente als Input, in dem u.a. die Begriffe Inter- und Transkulturalität und ihre Schwächen thematisiert werden, wobei das Zusammenleben von Tschechen, Deutschen und Juden, durch die Textbespiele aus den Federn Egon Erwin Kischs, der diese drei Gruppen als völlig voneinander separierte Einheiten charakterisiert, und Johannes Urzidils Beschreibung des Hinternationalen, welche Prag als einen Zwischenraum durch ihre horizontale Auffassung erscheinen lasse, belegt sind.

 

In Raumkonzepte theoretisch, dem anderen dem oben erwähnten Fachbuch entnommenen Kapitel, kommt ein anderer schwierig erfassbarer Begriff zum Vorschein, der jedoch für die Erfassung der deutschen Literatur Prags von großem Belang ist. In erster Linie belehrten sich die KursteilnehmerInnen über die Dichotomie von Zentrum und Peripherie, ferner dann über den spatial turn in den Sozialwissenschaften, nähergebracht wurden auch die Raumtheorien von Cassiers und Mukařovský etc.

 

Der tiefgreifende Einführungsvortrag von M. Weinberg mitsamt der Hauslektüre der oben skizzierten theoretischen Kapitel gaben Anregungen zur Interaktion des Kursleiters und der Studierenden. Wiewohl die meisten der Teilnehmenden, die sich aus Bachelor-, Master- sowie Doktorstudenten rekrutierten, ohne allzu großes Vorwissen an das zu behandelnde Thema herankamen, war es die entgegenkommende und kundige Seminarführung von M. Weinberg, die die Diskussion ständig vorantrieb – neben den wichtigen Eckdaten übten die Studierenden die Fähigkeit, den Sinn des Textes so präzise wie möglich wiederzugeben, die in ihm verwendete Argumentation ausführlich beschreiben und ihre Stärken und Schwächen benennen zu wissen.

 

Umso schwieriger solch eine Bemühung den theoretischen Aufsätzen gegenüber sein mochte, desto nutzbringender erwies sie sich bei der Interpretation der einzelnen literarischen Texte, mit denen sich die Teilnehmenden bis zum Ende des Blockkurses auseinandersetzten. Angesetzt wurde mit Zwei Literaturen und ein Argot von Paul Eisner und Deutsche und Tschechen von Egon Erwin Kisch, fortgefahren mit Juden, Deutsche und Tschechen und Der Jüdische Dichter deutscher Zunge von Max Brod, über den Text von Johannes Urzidil Predella – Relief der Stadt bis schließlich zum Text Franz Kafkas Schakale und Araber, der ein Schlusspunkt war und gleichzeitig einen Bogen zum Anfang des Blockkurses spannte.

 

Der zwei Tage dauernde, in sieben Blöcke aufgeteilte und lektürenreiche Kurs leistete für alle Beteiligten bestimmt einen wertvollen Beitrag zum Verständnis der deutschen Literatur Prags, indem er die neuen Zugangsoptionen auf dieses Thema einer eingehend theoretischen, dennoch transparenten Hinterfragung unterzog, an deren im konstruktiv kritischen Geiste die Studierenden aktiv teilnehmen durften – nah an dem jeweiligen Text und eigenes Gedankengut heranziehend. Es liegt außer jedem Zweifel, dass Prof. Dr. Manfred Weinberg durch seinen Blockkurs einen aufbaufähigen Ausgangspunkt gesetzt hat, von dem aus das Interesse an der deutschen Literatur Prags weiter gefördert werden kann.