Hagard von Lukas Bärfuss

Textanalyse von Jan Trna -1. Oktober 2017

Nach den erfolgreichen Romanen Hundert Tage und Koala präsentiert der Schweizer Romancier und Dramatiker Lukas Bärfuss einen kürzeren Prosatext, der als vielversprechend gelten mag – dieses Buch ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert worden und gehört zu den meist erwarteten Neuerscheinungen des Frühjahrs 2017.

 

Bürgerkrieg bzw. Selbstmord, die Bärfuss in den oben genannten Romanen thematisierte, löst nun eine Geschichte ab, der weder eine weitreichende Recherche noch ein ausformuliertes soziales Phänomen zugrunde liegen. Zum Tragen kommt eine rasante Einschränkung, die vornehmlich eine Person in einem komprimierten Zeitraum agieren lässt.

 

Mit dem Erzähler, dessen Verhältnis zur Hauptfigur ungeklärt bleibt und der bezüglich der zu erzählenden Geschichte behauptet: „Ich weiß alles, und begreife nichts.“ (S. 7), heftet man sich an die Fersen des Immobilienhändlers Philip, dessen vierzigstes Lebensjubiläum und schlanke Figur schon längst der Vergangenheit angehören, welcher allerdings eine erfolgreiche Existenz erworben hat und kurz vor dem größten Geschäft seines Lebens steht. Der seinen Verpflichtungen brav nachgehende Philip beäugt „ein Paar pflaumenblaue Ballerinas“ (S. 24), die auf den Füßen einer um zwanzig Jahre jüngeren Frau unterwegs sind, und durch eine plötzliche Gemütsbewegung, entscheidet er sich, ihr zu Folgen. Obwohl er sie ständig nur von hinten anschaut, indem er ihre flinken Bewegungen bewundert, bildet er sich ein, dieses Mädchen habe ihm zugewinkt und dadurch zu einem seltsamen Verfolgungsjagd-Spiel eingeladen.

 

Aus welchen Gründen sich Philip auf so etwas Albernes einlässt, bleibt nicht nur dem Leser, sondern auch dem Erzähler unbekannt und unheimlich zugleich – binnen sechsunddreißig Stunden verzichtet Philip nämlich auf jeglichen Kontakt mit seiner Mitarbeiterin, die sein anspruchsvolles Zeitmanagement gestaltet, und dadurch ein bereits angesetzte und höchst lukrative Projekt zum Misserfolg verurteilt, sowie mit der Tagesmutter, einer illegalen Einwanderin, die Sorge für seinen Sohn trägt. Weder die Aussicht auf einen immensen Verdienst noch die Verantwortung für sein Kind sind stark genug, um ihn von der anfänglich sexuell motivierten Verfolgung, die demnächst ins Unbegreifliche gesteigert wird, abzubringen. Geld oder Angst vor Bloßstellung verlieren für Philip an Relevanz – um den Eingang in Mädchens Haus aus dem Blick nicht zu verlieren, ist er bereit, einem fremden Mann eine horrende Summe zu bezahlen, damit er seinen Wagen, in dem er später die ganze Nacht lang lauert, herbeifährt; nachdem er seinen eigenen Schuh bei der Flucht vor Zugkontrolleuern verliert, begeht er sogar einen Diebstahl, um sich ein neues Schuhwerk zu besorgen. Auch Philips Wahrnehmung seiner selbst und der Außenwelt erfährt nach einer schlaflosen Nacht im Auto wesentliche Änderungen: „Gestern war er einer wie sie, heute verachtet er die Menschen. Er ist getrennt von ihnen und wird nie zu diesem Zug gehören.“ (S. 86) Erst der polizeiliche Anruf, auch den nimmt Philip nicht entgegen, reißt ihm von seiner Besessenheit los und lässt ihn von den Konsequenzen seiner Taten nachdenken. Als er jedoch später feststellt, dass sein Auto nicht mehr da ist, wo er es geparkt hat, überwältigt ihn der Wahn mit voller, wohl möglich verhängnisvoller Stärke.

 

Ein Aspekt, der das Besondere an diesem Buch ausmacht, besteht jedoch nicht in dem gewiss originellen Plot. Es ist die Instanz des Erzählers, die nicht lediglich dem Erzählten dient, sondern eigenständig in den Vordergrund rückt. Über alle beschriebenen Ereignisse ist der Erzähler bestens informiert, indem er offen seine Obsession an Details gesteht. Gleichwohl räumt er auch ein, vieles nicht deuten zu können, was er für sein Versagen hält, trotzdem fühlt er sich dazu berufen, die Geschichte zu erzählen. Somit übernimmt er zu einem gewissen Grade die Rolle des Lesers, wobei er die Fragen nach Philips tatsächlichen Beweggründen stellt, wie folgt:

 

Was wollte Philip von dieser Frau? Kannte er sie, oder meinte er sie zu kennen? Erinnerte sie ihn auf jemanden von früher? Falls er sie nicht kannte: Mit welchen Absichten verfolgte er sie? Wollte er sie ansprechen? Zu welchem Zweck? Um mit ihr einen Kaffee zu trinken, brauchte er jemanden zum Reden? Oder sucht er ein Abenteuer? Gehörte er zu den Männern, die wahllos auf der Straße Frauen ansprechen und in ein Gespräch verwickeln? (…) Was ließ ihn glauben, er könne bei ihr etwas erreichen, das dreißigtausend aufwiegen konnte? (S. 29f)

 

Aufgedeckt wird die Positionierung des Erzählers, die keineswegs den üblichen Leser-Erwartungen entspricht: Auf der einen Seite ist er durchaus imstande, jedes äußere Detail präzise wiederzugeben, zur gleichen Zeit in Philips Innerem Ausschau zu halten und seine verwirrten Gefühle zu Tage treten zu lassen. Auf der anderen Seite verfügt er über keinerlei Auskunft über Philips früheres Leben – man erfährt, obzwar sehr ausgiebig, nicht mehr als das, was er innerhalb von anderthalb Tagen tut und denkt. Teilweise allwissend, in vielerlei Hinsicht jedoch bloß rätselnd erweist sich der Erzähler als jemand, dessen Kompetenz über das Menschliche hinausgeht, trotzdem kaum fähig ist, Philips Geschichte zu erschließen, indem er lediglich das fokussiert, was Philip unmittelbar betrifft und den Leser nicht mehr wissen lässt als Philip selbst.

 

Einen Gegensatz dazu kann man in der ausführlichen Beschreibung der Biographie eines Taxifahrers sehen, die eine Brücke zwischen der neuen (Philips) Welt und der alten darstellt. Seine Geschichte setzt an jener Stelle an, an der Philips Smartphone wegen des leeren Akkus den Dienst verweigert und zu einem „schwarzen Block“ wird. Mehrmals wird darauf hingewiesen, wieviel Prozent Restladung dem klugen Telefon noch übrigbleibt, bis dieser Countdown die Null-Grenze erreicht und Philip in die alte Welt gestürzt wird. Das durch Mord, Betrug, Schmuggel, Selbstmordversuch, Alkohol und Schulden gezeichnete Leben des Taxifahrers wird dem Leser vor Augen geführt und in dem Moment mit Philips Leben verknüpft, in dem der Taxifahrer beschließt, Philip zu vertrauen und obwohl dieser kein Geld hat, ihn zu seinem Wagen zu fahren. Sobald die beiden allerdings feststellen, dass Philips Auto nicht mehr auf dem Parkplatz steht, rastet der Taxifahrer aus:

 

Die ganze Scheiße umsonst. Für die Füchse. Für gar nichts. Ein Drecksack. Hatte seine Gutgläubigkeit ausgenutzt. Er trat diesem Wichser von hinten in den Rücken, sodass er der Länge nach auf das Pflaster fiel. Drei Mal hart in die Seite. Er drückte den Absatz auf seine linke Hand und verlagerte das Gewicht. (S. 160)

 

Damit endet die Begegnung vom erfolgreichen Geschäftsmann Philip und einem Delinquenten, einer namenlosen Gestalt, die zu „jenen Geistern [gehört], die lägst hätten tot sein müssen, aber noch nicht sterben konnten.“ (S. 148) Diese Begegnung ist jedoch lediglich einer der Kontraste, die L. Bärfuss aufstellt, um die Aussagekraft seines Textes noch aufdringlicher zu machen. Als ästhetisch kann man die Gegenüberstellung des Äußeren der beiden Hauptdarsteller bezeichnen: Die Plumpheit Philips, mit der er der wieselartigen Geschmeidigkeit der jungen Frau hinterher trottet, wäre ein Beispiel hierfür.

 

Noch spannender ist Philips Verhältnis zu dem ,Jagdobjekt‘: Während die junge Frau keinen blassen Schimmer hat, dass sie zum Gegenstand der vernichtenden Begierde wird, verwandelt sich die Faszination zur andächtigen Verehrung und Philip verliert den festen Boden unter den Füssen: Als er seine Geldbörse aus einem Sitzspalt zu befreien versucht, denkt er sich: „Deine Göttin ist fast am Bahnhof und du gräbst nach deinen Effekten.“ (S. 86) Indem er über ihren Job grübelt, liegt ihm die Vermutung nahe: „Das Haus hat keine Klasse. Die Göttin verlangt einen Tempel.“ (S. 111) Etwas später, als er den Gesprächen in einer Imbissbude lauscht, fragt er sich: „Hat er Zeit für Legenden? Nein er hat nicht einmal Zeit für seine Erlösung.“ (S. 119)

 

Mit dieser Vergöttlichung geht Philips Verzicht einher, eigenständige Entscheidungen treffen zu können. Scheinbar gewinnen zwar die Vorteile die Oberhand: „Er will in ihrer Nähe sein, da fühlt er sich kräftig, er weiß, wozu er geboren wurde.“ (S. 90) Trotz der vermeintlichen inneren Kraft stellt man späterhin jedoch fest: „Doch Philip war nicht mehr frei. Er hatte sich dem Mädchen überlassen. Es hatte Macht über ihn. Philip entschied nicht mehr. Er war betört. Ein Zauber hatte sich seiner bemächtigt. Und Philip war schwächer.“ (S. 126)

 

Vereinfacht lässt sich das bereits Beschriebene auf die Formel bringen: Philip verzichtet auf das, was von ihm erwartet wird – auf seine Arbeit und Familie – im Gegenzug widmet er alle seine Kräfte einer Tätigkeit, der Verfolgung nämlich, die schon an sich moralisch fragwürdig ist, wobei er sich dadurch physisch wie auch psychisch ruiniert. All dies verleiht ihm zu Beginn ein gewisses Gefühl von Selbstsicherheit, dennoch wird er mit der Zeit seiner Autonomie beraubt, die Verfolgungsjagd entreißt ihn der aktuellen Welt – der leere Akku seines Smartphones versiegelt sowohl symbolisch als auch real sein Schicksal.

 

Lukas Bärfuss gewährt durch Hagard einen tiefen Einblick in das Lebensgefühl vieler Menschen, die in der modernen Gesellschaft ihren wirtschaftlichen Idealen nacheilen, obwohl sie schon längst ihre materiellen Bedürfnisse gestillt haben – also einer Trägheit, schlimmer des Geizes wegen – und sich heimlich nach einer Erlösung aus diesem Dasein sehnen. Ins Zürich des Frühjahres 2014 platziert der Schriftsteller die Geschichte eines Mannes, der solch einer Sehnsucht folgt und in die (Geistes)Vernichtung abgleitet. Mit dem allerletzten Satz ruft der Erzähler zur weiteren Deutung dieser Geschichte auf – „Dies ist das Ende, und hier will ich beginnen.“ (S. 173) Und diese ist deren auch wert. Mit einer, mit der Zeit keinerlei nachlassenden Eindringlichkeit sucht Lukas Bärfuss nach Gründen, die die Menschen dazu stimulieren, den anderen und sich selbst wehzutun. Sei es in Ruanda während des Bürgerkrieges, von dem ein Schweizer humanitärer Arbeiter Zeugnis ablegt, oder sei es angesichts des Freitods, den sein Bruder verübt hatte, und den Bärfuss als „asozialen Akt“ betrachtete. Um das Asoziale geht es auch in Hagard, obwohl nicht ein Genozid von Hunderttausenden oder eine familiäre Tragödie heraufbeschworen werden. Lukas Bärfuss schränkte die Perspektive nochmals gründlich ein und damit verhalf er dem Stoff zu einer bis anhin ungeahnten Intensität.

 

Lukas Bärfuss: Hagard. Göttingen: Wallenstein Verlag, 2017, 173 S. ISBN 978-3-8353-1840-3.